Kurzgeschichte: Frau Kaiser und ihre Kinder
Frau Kaiser hatte fünf Kinder und hätte gern noch ein sechstes gehabt.
Als sie das Thema eines Morgens ansprach, fragte ihr Mann über den Rand seiner Zeitung hinweg: „Reicht es dir immer noch nicht?“
Da schlug Frau Kaiser die Augen nieder und begann den Tisch abzuräumen.
Später zog sie ihr jüngstes Kind, die Anemone, an. Sie bürstete ihr fuchsbraunes Haar, sang dazu und hatte dabei den Blick ihres Mannes über den Zeitungsrand fast vergessen.
Es war ihr nach Jubeln zumute, so fein sah Anemone aus, nachdem sie ihr das mit Spitzen besetzte Kleid angezogen hatte.
Anemone lachte und Frau Kaiser lachte laut zurück. Sie sah dabei nicht, dass ihr Mann ihnen von seinem Küchenstuhl aus zusah. Er runzelte die Stirn, strich sich durchs Haar und die Zeitung schwieg auf seinem Schoß.
Plötzlich sah Frau Kaiser, dass ihr Peterchen einen Fleck auf seiner Latzhose hatte. Unschön prangte er auf dem hellen Stoff.
„Oh je!“, sagte sie. Schnell wechselte sie seine Kleidung und wusch sein Gesicht mit Wasser und Seife. Warum müssen sich Kinder dauernd schmutzig machen, dachte sie und schluchzte beinahe.
Als sie fertig war, sah sie, wie Peter sich freute, wieder sauber zu sein. Befriedigt schaute sie auf ihre anderen drei Kinder: Auch Astrid, Luise und Jan sahen frisch und ordentlich aus.
Dann erst bemerkte sie den Blick ihres Mannes. Bestürzt erkannte sie, er wollte etwas sagen, deshalb kam sie ihm zuvor: „Meinst du sie haben jetzt Hunger?“
„Lisbeth, es reicht!“
Erschrocken hielt Frau Kaiser ihre Hand vor den Mund.
Aber da war ihr Mann schon aufgesprungen, kam auf sie zu und riss ihr grob Luise weg, die sie gerade hochgenommen hatte.
Mit all seiner Kraft schleuderte er den kleinen, leichten Körper quer durch den Raum. „Ich ertrage das nicht mehr!“, brüllte er und sah, wie Luise am Schrank abprallte und liegen blieb.
Frau Kaiser schlug ihrem Mann ins Gesicht und schrie: „Das sind unsere Kinder, das darfst du nicht tun!“, dann lief sie zu Luise hinüber, hob sie auf, nahm sie in die Arme: „Ist ja gut, meine Kleine, ist ja gut“, flüsterte sie und begann leise zu singen, während sie sich mit Luise aufs Sofa setzte: „Armes Häschen, bist du krank?“. Ganz leise und warm sang sie, so wie Kinder es mögen.
Herr Kaiser stand verloren im Raum. Die Zeitung war heruntergefallen, schwieg in der Ecke, kam ihm nicht zu Hilfe und war ihm kein Trost.
Anemone und die anderen Kinder sahen eingeschüchtert zu, als Frau Kaiser Luise an ihr Gesicht hob, um sie zu küssen.
Doch was war das?
Frau Kaiser erschrak: Da klebte ein Auge von Luise an ihrem Ärmel, ein blaues Auge von Luise.
Sie nahm es in die Hand, spürte nicht seine Kälte, spürte nicht seine Unnachgiebigkeit, sondern begann heftig zu weinen.
Dieses Weinen klang wie das Jaulen eines gequälten Tieres, so laut war es, so eindringlich und so vielsagend.
Ein widerlicher Laut, der Herrn Kaiser derart ängstigte, dass er zum Telefonhörer griff, ihn wieder fallen ließ, zu seiner Frau trat, sie an der Schulter berührte, aber schließlich die Schultern zuckte und sich abwandte: „Lisbeth, sagte er, du musst mich verstehen!“
Dann hob er den Hörer noch einmal ab und wählte die Nummer.
Kurzgeschichte: Als flögen wir davon
Meine neue Nachbarin war eine seltsame Frau.
Im Januar zog sie in das Haus nebenan und ich sah sie anfangs nur selten. Sie ließ sich, wenn überhaupt, nur von Weiten blicken. Wie eine Silhouette aus Frost und Rauch zeigte sie sich manchmal am Ende der Straße. Was sie dort tat? Ich weiß es nicht, ich habe sie nicht gefragt und bin nicht näher getreten.
Im Februar sah ich sie zusammen mit einem Mann, der hatte ihr zum Valentinstag ein rosa Herz um den Hals gebunden. Er spielte an der Schnur, die daran befestigt war und immer, wenn er zog, gab sie Küsschen.
Als es zu tauen begann, war ihre Liebe vorbei. Im März kam sie mich mit einem Hasen besuchen. „Hallo!“, sagte sie, „Wissen Sie schon, dass der Mensch einsam ist und einsam bleibt, bis er stirbt?“
Ich nickte: „Ja, das habe ich geahnt. Aber warum nur, bis er stirbt? Was kommt denn danach?“ Sie zuckte die Achseln, setzte den Hasen auf meinem Küchentisch und verschwand.
Wenige Tage später erhielt ich einen Anruf, meine Großtante sei gestorben und hinterlasse mir ein Vermögen. Ich stürmte aus dem Haus, bereit zu einer ausgelassenen Einkaufstour. Da tauchte meine Nachbarin hinter dem Zaun auf. „Stellen Sie sich vor, ich bin reich!“, brüllte ich. Sie musterte mich von oben bis unten: „April, April.“, lachte sie. Ich schüttelte den Kopf und schlich wieder hinein.
Im Mai hatte ich meine große Liebe gefunden. Einen starken Mann, der mit seinem Kinn die Weltmeere für mich hätte teilen können, wenn er denn gewollt hätte. Aber er wollte nicht, denn als er meine Nachbarin im Garten erblickte, fragte er: „Wer ist das?“ Ich zog ihn weiter: „Nur eine Verrückte!“, antwortete ich. Er nickte zwar, doch ich las seinen Blick und schickte den Mann wieder fort.
Meine Seele erkältete sich in dem Juniregen, der nun folgte und sieben Wochen andauerte. Ich hustete, schnupfte und meine Nachbarin kam an mein Bett, servierte ein Gericht aus Krötenaugen und Mäuseschwänzen: „Morgen wird es dir wieder besser gehen!“, versprach sie, stellte sich ans Fenster, öffnete seine rauen Flügel und fing den Regen in ihrer weichen Schürze auf. „Gleiches muss mit Gleichem bekämpft werden!“, erklärte sie, „Mach den Mund auf und trink!“
Ich gehorchte, trank und bekam noch mehr Durst auf noch mehr Regen, auf Wolkenbruch, Unwetter und Sintflut. „Gib mir mehr!“, flehte ich, doch sie schüttete ihre Schürze über meinen Blumen aus und sagte: „Wer mehr trinkt, wird nur noch vom Ozean satt!“, dann ließ sie mich liegen und ging davon.
Im Juli wurde ich wieder wach. Die Sonne kitzelte mich mit ihren Strahlen und ich verfing mich im Fischernetz meiner Nachbarin, als ich das Haus verließ. „Was tust du?“, wollte ich wissen.
„Ich fange darin meine Träume.“, antwortete sie. „Wozu?“, ich rupfte das Netz aus meinem Haar. „Sie schwimmen so schnell dahin und gehen in der Dunkelheit verloren wie Irrlichter.“
Ich hörte zu und fragte: „Was hast du heute schon gefangen?“
Meine Nachbarin sah in das leere Netz zu unseren Füßen: „Einen Alptraum, in dem ich Kind bin und verzweifelt wünsche, groß zu sein!“ Ich ging weiter und über meine Schulter hinweg rief ich ihr noch zu: „Na dann, Petri Heil!“
Der August kam und verstaubte die Welt. Er klebte wie Sirup an meinem Körper. Ich fluchte und strich mir den Schweiß von der Stirn, da hörte ich von drüben Wasser rauschen. Ich sah aus dem Fenster in den Garten meiner Nachbarin. Sie hatte sich eine Dusche gebaut, stand darunter und sang leise zu der Melodie des Wassers. Ich musterte ihre Nacktheit, fühlte mich ertappt, obwohl sie blind vom Wasser mich nicht sehen konnte. Ich stellte fest, dass sie nicht schön war, es beruhigte mich nicht und ich ging ihr für ein paar Wochen aus dem Weg.
Bis im September ein Zirkus in die Stadt kam. Er zog durch unsere Straße. Da rollten Wagen durch. Elefanten und Tiger schritten Seite an Seite mit Clowns, Giraffen und Messerwerfern, die Kunststücke vollführten. Es roch nach Freiheit und Dung.
Ich sah dem Treiben zu, bis ich meine Nachbarin erkannte. Ganz hinten, mit einem Liliputaner an der Hand, lief sie und lächelte geschminkt in die Menge.
Als sie meine Höhe erreicht hatte, traut ich mich zu fragen: „Was tust du dazwischen?“ Sie umarmte mich, küsste meine Wange, kniff in die andere und erklärte: „Ich lebe endlich!“
Ich hielt sie von mir fort, sah ihr ins Gesicht und sagte: „Das hast du vorher schon getan, du ganz bestimmt!“
Im Oktober war der Zirkus weiter gezogen und hatte sie nicht mitgenommen. Nun saß sie in ihrem Garten, unter ihrem Birnbaum, hielt eine reife Frucht in der Hand und weinte. Ich hörte es, als ich gerade mein Bett machte und ging zu ihr. „Was hast du denn?“
Sie sah mich mit milchigem Blick an. „Das Leben geht so schnell vorbei!“. Ich seufzte und nickte. Aber sie sprach weiter: „Wenn wir Glück haben, dann sind es siebzig oder achtzig Jahre“, sie stammelte und schluchzte, „aber die meisten davon sind Arbeit und Mühe!“ Ich nickte, nahm ihre Hand, aber sie riss sie mir fort und schrie mich an: „Es ist, als flögen wir einfach davon, nicht wahr?“
Ich kauerte mit ihr unter ihrem Baum, der überreife Früchte trug, und wusste keine Antwort. „Von nun an“, sagte sie, „stirbt alles, diese Birnen, du und ich, sogar die Tage sterben ab, jeden Tag sind es nur wenige Minuten und irgendwann ist es für immer Nacht!“
Ich dachte viel darüber nach, was sie gesagt hatte und im November fiel mir endlich eine Antwort ein, ich rannte sofort zu meiner Nachbarin, um sie ihr mitzuteilen. Ich fand die Frau in ihrem Haus, wo sie auf einer Leiter stand. „Hallo!“, sagte ich, „was ich dir sagen wollte, neulich ...“
Sie sah zu mir herunter: „Ach, du bist es!“, sie wedelte mit einer Lichterkette. „Ich bin gerade dabei, mein Haus zu schmücken. Die Weihnachtszeit ist doch die friedlichste des Jahres, findest du nicht?“ Ich stand unbewegt und staunte.
„Ich liebe es, wenn die Tage kürzer werden und die Menschen still“, sagte sie. Ich vergaß, was ich sagen wollte und floh.
Am Tag vor Heiligabend sah ich mit einem Elch im Vorgarten spielen. Am nächsten Tag begann es zu schneien und sie baute zusammen mit einem Eskimo einen Iglu.
Am zweiten Weihnachtstag kam sie herüber und brachte mir ein Geschenk. Ich erschrak und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, denn ich hatte nichts für sie besorgt. „Es ist ja nichts Besonderes!“, beschwichtigte sie mich. Da traute ich mich endlich, es auszupacken. Als ich das Papier entfernt hatte, erkannte ich eine leichte, schwarze Röhre. „Was ist das?“, wollte ich wissen und vergaß, mich zu bedanken.
„Sieh doch hinein!“, lachte sie, „darin ist eine ganze Welt, sie spricht zu dir und ist voller Zauber.“ Ich sah hinein, erkannte Farben und Kristalle, die durcheinander stoben, wenn ich die Röhre bewegte. „Schön!“, sagte ich und sie meinte: „Das ist ein Kaleidoskop!“ Ich tauchte noch einmal in die Dunkelheit aus Farben ein. Meine Nachbarin ging und ließ mich in meiner neuen Welt allein.
In der Silvesternacht sah ich sie noch einmal. Sie goss Wachs in den Schnee und weissagte mir meine Zukunft aus den Formen im Eis. „Du wirst sterben!“, sagte sie und ich erschrak: „Wann?“, keuchte ich.
Sie lachte: „Noch in dieser Zeitrechnung!“, dann warf sie sich in den Schnee, grölte über ihren Witz und konnte sich kaum noch beruhigen. „Ab heute sterben wir alle. Hast du das vergessen?“, kicherte sie.
„Nein“, sagte ich, „ich habe es nicht vergessen, aber es hilft mir nicht.“
Sie stand auf, plötzlich ernst geworden, nahm meine Hände und führte sie an meine eigene Brust: „Hier drin schlägt der Takt des Himmels und deiner eigenen Hölle. Du musst nur zuhören, dann erfährst du alles!“
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